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Liewerfrau

Sie wird als stille bescheidene Dienerin dargestellt und ist in Wirklichkeit eine Heldin. "Die" Solinger Liewerfrau, die Ehefrau eines Heimarbeiters. Sie trug "en Jedrag", ein ,Getrag' Halb- oder Fertigwaren vom Kotten an einem Bach oder der Wupper den Berg hinauf zu den Kontoren der Fabrikanten, die die Arbeit vergaben und wieder abkauften und brachte neue Rohware auf dem Rückweg mit. Straßen gab es über Jahrhunderte keine, bei Regen (Schlamm) und Schnee (Glätte) musste gelaufen werden. Und zu Hause warteten so einfache und lustbringende Pflichten wie täglich zweimal warmes Essen kochen, wöchentlich Wäsche kochen und wringen, zwischendurch Kinder gebären und täglich versorgen, den Garten in Schuss halten, Kleidung nähen und Wäsche stopfen, freitags "den Dürpel schrubben", sonntags artig in die Kirche gehen und nachmittags Verwandten bewirten, Pfingsten alles für die Familienwanderung parat halten, die Großeltern pflegen, den kranken oder besoffenen Mann umtüddeln - und notfalls im Kotten selbst zur Arbeiterin zu werden. Ohne den aufopferungsvollen Fleiß zigtausender Solinger Frauen wäre das Warenwirtschafts-, Arbeits-, Sozial- und Erwerbssystem der einmaligen Art Typus "Solingen" niemals möglich gewesen. Selbst selbstbewusste heutige Frauenvereinigungen in Solingen erinnern sich zumindestens öffentlich eher in der Rubrik "alte Erinnerungen" an die Kraft dieser Frauen. Dass der starken und geduldigen Frauen nicht in dem Maße gedacht wird wie den "Helden" an Schleifstein und Esse, ist geradezu tragisch. Nur ein stilles Denkmal, das ist zu wenig.

 

Befreien Sie die Liewerfrau aus dem Schattendasein. Fahren Sie mit der Maus über das Bild und rücken Sie die Solinger Heldin ins rechte Licht !

Bis um 1920, 25 (eine sogar bis 1940, von Widdert aus) zogen noch Frauen von den Kotten zu den Fabriken. Ein Korb (Gedrag) umfasste 306 Metallteile oder fertige Produkte, nämlich 25 Dutzend (25x12) plus 6 Stück "Zuschuss".

Kurz vor dem ersten Weltkrieg gab es im Kreis Solingen um die 6.000 Schleifer in etwa 650 Arbeitsstätten (Kotten oder gemietete Arbeitsplätze in Fabriken). HInzu kamen etwa 3-4.000 Reider (Fertigmacher). 1925 wurden in Solingen ca. 13.000 Heimarbeiter gezählt (Höchststand). Der "made in Solingen"-Bezirk umfasste zu Spitzenzeiten ca. 2.300 Kleinbetriebe (weniger als 10 Beschäftigte) und 340 größere Betriebe.

 

 

Dieses Denkmal steht am Fronhof, direkt neben der ev. Stadtkirche. Und - es steht einfach nur rum. Noch nicht einmal zur Walpurgisnacht, der mystischen Nacht vor dem 1. Mai, erhält es weiblichen Beistand - da verlustieren sich die Damen Hexen lieber im fernen Gräfrath. Warum pilgern die Girlies nicht zu diesem Denkmal um zu zeigen, was Weiber wirklich wuchten. Wahrscheinlich auch nur eine dieser saublöden Männerfragen.

Edeltraut Welling hat um 1990 noch lebende Solinger Liewerfrauen befragt, Ihre Erinnerungen aufgeschrieben und in einem sehr lesenswerten Bändchen hochinteressante Fakten zusammengetragen. Aus öffentlicher Armut wurde das Buch leider in einer unwürdigen Qualität hergestellt. Dennoch empfehlenswert - und wie viele solcher Quellen in der Solinger Stadtbücherei auszuleihen (10892007)

Herausgeber Stadt Solingen, Presse- und Informationsamt
Selbstverlag Stadtarchiv Solingen
Reproduktionen Mikrofilmzentrale der Stadt Solingen
Herstellung Schreibkanzlei Solingen

 

Lieferfrau. Da sträubt sich des Chronisten Tastatur. Wenn schon nicht umschriftlich korrekt Lïewerfrau, dann mindestens Liewerfrau, wie es die Autorin auch im Text gleich anfangs vermerkt. Gesprochen  "Läwerfrau", wobei ähnlich wie in der Vogelwelt die Zwitschertöne von Schwarm zu Schwarm in der Solinger Mundart die "Singtöne" ä oder au von Hof- zu Ortchaft variiert werden - mal breiter, derber, gezogener.

1935 soll diese Aufnahme entstanden sein. Die Körperhaltung deutet darauf hin, mit leeren Körben, nur so zum Schein. Dennoch lassen sich Details erkennen. Die typische umgebundene Schürze der Hausfrau, Blaubedrucktes - so ging man früher alltags. Oder die Kittelschürze der jungen Frau, das Arbeitsjöppchen des Mannes und der "Huhsiedene", der hohe Seidenhut, dazu "de Piep" und der Wanderstock. Zum Gehen trug man hohe Lederschnürschuhe

 

Eine Liewerfrau schildert in diesem Buch: "Die Hose war zweiteilig ... wenn man weite Wege ging, konnte man den schweren Korb nicht alleine ab- und aufsetzen. Da war dann die offene Hose praktisch, wenn man mal ,klein' musste.."

Eine andere Form des Lieferns: Mittags brachten die Frauen den Männern in den Kotten Warmes zu essen, im "Henkelmann" oder "Müter". Dieser Brauch war in Solingen noch bis in die 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts (und länger) auch in ganz normalen Fabriken und vielen Werkstätten üblich. Entweder hatten die Arbeiter es in der Tasche morgens dabei (dann war es am Vortag vorgekocht) und es wurde eine halbe Stunde im Wasserbad erwärmt (dafür waren die Lehrlinge zuständig), oder eben Kinder oder Frauen brachten es zur Mittagspause "en et Dengen", den Kotten, die Fabrik, auf die Baustelle. Denn: Fastfood und Müsliriegel gab es einfach noch nicht !

 

Auch herrlich zu sehen: die Blotschen, die Holzschuhe. Einerseits als Schutz bei der Arbeit (später gab es Lederschuhe mit Stahlkappen) einerseits und andererseits aber auch völlig normale Schuhe. Nicht nur im Münsterland oder in Holland waren die Blotschen früher normal, Usus, Alltag.

Einmal in der Woche war Waschtag. An der Pumpe, am Pött. Fließend Wasser im Haus war bis zum zweiten Weltkrieg zumindestens in alten Häusern eher die Ausnahme. Waschmaschinen waren schon erfunden, aber wer konnte sich die leisten? Also blieb der Bottich mit Holzheizung und die Mangel, durch die die Wäsche gepresst wurde, bevor sie auf die Bleiche (Wiese) oder Leine kam. Gewaschen wurde übrigens meist mit Kernseife. Das Bild entstand 1932, als der Solinger Spar- und Bauverein längst die ersten Waschhäuser mit großen Maschinen gebaut hatte.

1907 erfand Fritz Henkel das Waschpulver. Dessen Name: Persil, ein Kunstwort aus NatriumPERborat + NatriumSILicat, Öl und Lauge (=Seife). Die Möglichkeiten davor: Seifenkraut, eine Plfanze; gegorener Urin (hoher Ammoniakgehalt); Rindergalle; Aschenlauge, Pottasche = Kaliumcarbonat K2CO3, in Wasser gelöste Pottasche bildet eine Lauge; Zur Zeit Karls des Großen gab es schon Seifensiedereien.
Berühmt wurden die Stadt Savona (davon leitet sich das Wort "Seife" ab), Venedig und Marseille. Seifenzünfte gab es in Augsburg (seit 1324) Prag (seit 1336) und Wien (seit 1337). Der Aufstieg der Seifen vom Luxusartikel zum Konsumgut wurde durch den Aufschwung der Textilindustrie begünstigt und setzte mit der Erfindung des Leblanc-Sodaprozesses (1820) und der Einfuhr tropischer Pflanzenfette, wie Palmöl und Kokosöl (um 1850) ein.

 

Die Körbe wogen durchschnittlich um die 15-20 kg, Männer trugen bis zu 30 kg und mehr, allerdings auf der Schulter. Der Tragering war nach Belieben gefüllt, meistens mit Kapok (Kapok wird aus den Schoten des tropischen Kapokbaumes, auch Wollbaum genannt, gewonnen - heute übrigens als Kissenfüllung ein Geheimtipp für Allergiker). Vor allem bei Regen war nicht nur das Tragen gefährlich und mühsam wegen der glitschigen Wege, da die Ware nicht einzeln verpackt war, musste sie mit einem Wachstuch abgedeckt werden und so schnell wie möglich zur Fabrik oder zur Werkstatt zu kommen, weil sonst schon Rostflecken ansetzen konnten.

Die Entlohnung für das Tragen war wahrlich fürstlich: 60 bis max 80 Pfennig pro Weg. Dafür bekam man 1 Pfund Butter, oder 15 Pfund Kartoffeln, 5 Liter Milch; schon für 15 mal Laufen konnte man sich ein paar Schuhe leisten ....

Wer mit der Straßenbahn fuhr, musste für den Korb einen Groschen extra bezahlen, die Fahrt an sich kostete auch 10-15 Pfennig. Eine durchschnittliche Lieferung dauerte um die 2 Stunden hin, 1 Stunde Warten und Abliefern auf dem Kontor, vielleicht noch eine halbe Stunde zum Holen der Rohwaren und dann wieder möglicherweise 2 Stunden zurück. Da blieb ja noch reichlich Zeit für Hausarbeit ...

Da sagt die stressgeplagte Powerfrau von heute doch glatt: "Hatten die das gut, früher".

Das mit Perlen bestickte Kissen zwischen Korb und Kopf wird im Solinger Dialekt Koppkrangs (Kopfkranz) oder Kopppölf genannt.

 

Foto rechts: ST-Archiv, veröffentlich 9. 3. 04

Und was machten all die Frauen, die nicht liefern mussten? Lagen die zu Hause faul auf dem Pfuhle? Der Anteil der weiblichen Arbeitskräfte in der typischen Solinger Wirtschaft betrug in den letzten 100 Jahren immer schon mindestens ein Viertel und stieg zeitweise (vor allem auch nach dem 2. Weltkrieg) auf gut 50 Prozent an.

 

 

 

Diese wunderschöne, schlichte und doch sehr ausdrucksstarke Schmiedearbeit befindet sich an einem Haus an der Cronenberger Straße. Die Resolutheit des Ausdrucks, Stärke und Kraft sind deutlich sichtbar - und wohl auch charakteristisch.

 

 

 

 

 

 

Für Kinder: Das Motiv in bunt.