Das Müngstorama:


Müngstener Brücke 2

Inzwischen tut man einiges mit der "alten Dame", wie dieses stählerne Ungetüm zuweilen genannt. Nicht nur, dass sie regelmäßig gestrichen und mit neuen Bohlen belegt wird, was ihren Fortbestand sichert. Nein, man nutzt den Kontrast von herrlicher Landschaft und beeindruckender Technik zu Events: Brückenfeste, Brückenzauber. Und zu manch anderer Gelegenheit, zum Beispiel dem Zöppkesmarkt, dampfen die uralten Loks wieder fröhlich vergnügt über sie weg.



 

Kein Fotomontage, sondern Sonderfahrt: ein TEE-Waggonset, von einer Dampflok gezogen, auf der schönsten Eisenbahnbrücke Deutschlands.

 

 

 

 

 

 


 

veröffentlicht in "Wirtschaftsstandort Solingen", Europäischer Wirtschafts Verlag und Stadt Solingen, 2001/2002

 

Am 15. Juli 1897 wurde das Prunkstück eingeweiht. 2,7 Mio. Mark waren verbaut, der letzte Niet angeblich golden (nie gefunden, aber es gibt spannende Geschichten darüber), die Bauzeit hatte 3 Jahre gedauert, MAN Augsburg war der Hersteller. 491 m lang überspannt die "Kaiser-Wilhelm-Brücke" (Name bei der Einweihung) 107 m hoch die Wupper und ist damit Deutschlands höchste Eisenbahnbrücke, die aus immerhin 5 Mio. Kilogramm Stahl besteht. Das sind: 5.000 Tonnen oder rund 170 Schwerlasttransporter. So gesehen eigentlich wenig. Na, ja, die Brücke besteht ja eben auch hauptsächlich aus Luft, wie man sieht. Zum Vergleich: der Pariser Eiffelturm wird mit etwas über 7.000 Tonnen Stahl angegeben, ist also nur ca. 40 % schwerer. Oder umgekehrt: die Müngstener Brücke ist zu 60 % der Eiffelturm. Die zerstörten Twin Towers (WTC) in New York sollen aus 200.000 Tonnen Stahl bestanden haben und die ollen Ägypter haben in der Cheopspyramide rund 5,5 Millionen Tonnen Stein aufeinander gestapelt. Damit hat die Eisenbahnbrücke also rund  0,1% des Gewichts dieser Pyramide bei immerhin 73 % ihrer Höhe. Was beweist, dass die Müngestener Brücke eigentlich als Weltwunder anerkannt werden müsste. Hätten die Pharaonen die Pyramide nämlich nach dem Prinzip der Müngstener Brücke gebaut, wäre das Bauwerk 1.430 km hoch geworden. Aber da wären ja selbst die Pharaonen schwindelig geworden und die Lokführer erst recht. Bei hundert Meter Bauhöhe jedoch hätte die Müngstener Brücke in Pyramidengwicht gerechnet 500 km lang sein und damit stellenweise das Mittelmeer überspannen können. Doch leider fährt kein Zug von Solingen aus dort hin. Schade eigentlich. Doch bis zum Eiffelturm würde es Luftlinie gut reichen ...

 

 beide Karten Verlag Schöning
 die obere: fast wahr
 die untere: frei erfunden

Und man schämt sich nicht zu lügen wie gedruckt: die Behelfsbrücke, von der es wirklich eine beim Bau gegeben hat, als dreiste Retusche mit gelogenem Text: "Aufgenommen im Frühjahr 1897".

Na, da gratuliere ich aber dem Verlag für solch tolle Farben zur damaligen Zeit (solch eine Farbfotografie-Pracht war noch gar nicht erfunden) und zur dichten Bewaldung, die der der 60er Jahre auf die Blattspitze identisch ist (nur Wolken und Zug sind ohnehin ins Bild retuschiert). Außerdem haben die Lithografen wieder mal leicht gefuscht, als sie die Arbeitsbrücke ins Bild einbauten (siehe Detail unten). Der linke Arbeitskran fehlt auch. Aber Touristen such eben die Illusion.


Aber alles in allem: so ist sie seinerzeit wirklich gebaut worden:

Reproduktion einer Reproduktion aus "Solingen, Porträt einer Stadt", Kunstverlag Bühn, München, 1983

 

Nun gibt es nachfolgend tolle Sachen zu sehen: Ein Mensch, der gewagt im Sturmgebraus der Höhenluft frei balancierend auf einer Plattform am linken Brückenvorbau weder Angst noch Schwindel zeigt. Ein Baukran mit dynamisch dicken Seilen, die einer fremden Schwerkraft-Achse gehorchen. Mystisch im Nebel verlaufende angeflanschte Eisenträger-Enden. Und im Scheitel der "Talbrücke zu Müngsten" steht stolz auf dem Berge die Gaststätte Schloss Küppelstein. Hier wurde am 22. März 1897 feucht-fröhlich Richtfest gefeiert. Man sagt, es seien soviele Biere getrunken worden wie die Brücke Eisenträger hat. Aber das kann auch nur ein Gerücht sein, vielleicht waren es ja 10 weniger.
 

 

 

 

 

Erst wurde die später wieder abgerissene Behelfsbrücke gebaut, dann begann der eigentliche Bau der Brücke.

 

Man muss nämlich wissen, dass dieses Bergische Land eigentlich viel Edleres verdient hätte, als dass man es als Industrieregion ansieht. Herrliche Prachtbauten, gesunde Luft, süffige Biere - all das vereint in diesem phantastischem Gebäude, dem Luftkurort Schloss Küppelstein.

 

Annonce aus dem Adressbuch der Stadt Remscheid 1910

 

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Solch eine Brücke zu bauen ist eine ingenieuse und logistische Meisterleistung. Vor allem, dieser Bau war mit einem gewissen Risiko verbunden. Noch nie hatte man einen dermaßen weit ragenden Freivorbau gewagt.

 

Tafel direkt unter der Brücke

 

Der erste Zug fuhr übrigens - zur Probe - am 3. Juli 1897 über die Brücke. 12 Tage später war Einweihung.

 

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Ein wirklich altes Photo, aber sollte der Zug wirklich echt sein, wäre er etwa 8 Meter hoch ... ???

 

 

Aus in etwa gleicher Zeit stammt diese Luftbildaufnahme, die deutlich zeigt, wie "weit draußen" Müngsten zwischen den Städten Solingen und Remscheid gelegen ist.

 

 

Hier der andere Kotten, wie immer er geheißen haben mag. Ganz bestimmt nicht Kaiser-Wilhelm-Kotten. Was aber ein netter Name gewesen wäre.

Wegen der Höhe der Brücke mussten übrigens die Lokführer damals eigens eine Prüfung ablegen. Die so genannte Müngstener Schwindelprüfung. Denn es wäre fatal gewesen, wenn es einem Lokführer über der Brücke schwindelig geworden wäre. Glauben Sie es? Sagen Sie nicht vorschnell nein. Auch zur Einweihung glaubte man noch felsenfest, Geschwindigkeiten über 40 oder 50 km könne kein Mensch überleben. Also - Schwindel oder Schwindelprüfung? Medizinisch jedenfalls hat die Brücke bereits Furore gemacht. Seit ihrem Bestehen nennt man die Sucht, sich in Schwindel erzeugende Situationen begeben zu müssen (Zwangshandlung)  Manosparia, benannt nach dem möglicherweise ersten so genannten "Gastarbeiter" auf einer deutschen Baustelle Mannitis Manospolus, der sich mannhaft weigerte, das Baugerüst zu verlassen und dort drei Jahre lang wohnte - während der gesamten Bauzeit!

Verlag A Niem, Elberfeld
Poststempel 26. 2. 1907

 

Manche sagen, es sei Erfindung. Wahr ist vielmehr, das es vielen Reichsbahnbeamten bei zu schnellem Lesen von Rundschreiben seit jeher eicht schwindelig wurde. In einem solchen Rundschreiben wurde dann auch die Streckenführung und die Signale des Schienenweges zur Müngstener Brücke dezidiert erklärt, was bei dem unglaublichen Schienenwirrwarr auf Solinger Gebiet eine Schwindelprüfung per se nahe legt. Überliefert ist der Ausspruch des Reichsbahn - Oberlokführers Heinrich August Hassel von der Delle, der nach erster Überquerung der Müngstener Brücke auf Remscheider Gebiet den befreiten Ruf ausstieß: "Endlech gi-et ett wi-er graduut!" (er sprach Remscheider Platt, ein etwas herber Idiom).  Heinrich August Hassel von der Delle gehörte übrigens zu den wenigen Privilegierten der Reichsbahn, die zum Ohligser Bahnhof "Tante" sagen durften. Interessant in diesem Zusammenhang ist übrigens auch, (die wenigsten wissen das heute noch) das am Bahnhof Schaberg anno dunnemals die Pässe kontrolliert wurden, wenn man auf Remscheider Gebiet wechselte. Trotz Zugehörigkeit zur gleichen preußischen Rheinprovinz wurde das Remscheider Gebiet aus Solinger Sicht als Angst erregendes Ausland gesehen. Umstritten blieb auch lange Zeit, ob denn die Brücke Solingen mit Remscheid oder Remscheid mit Solingen verbindet. Geklärt wurde es erst nach dem zweiten Weltkrieg in der Ersten Nordrhein-Westfälichen Gebietsstrukturreformkonzeptionsgeneralrichtlinie. Sie sagt eindeutig: Brücken führen vom jeweiligen Brachland in kulturelles Gebiet. Also: die Müngstener Brücke verbindet Remscheid mit Solingen. (für alle Remscheider: nehmen Sie sich Zeit, den Satz zu akzeptieren).